Marktoberdorf/Bernbeuren | dec | Erwin Wied hat die Blickrichtung geändert. 23 Jahre betrachtete der Bernbeurer Geld- und Kreditgeschäfte, Verbindlichkeiten und Gläubiger aus der Perspektive eines Bankdirektors. Seit knapp einem Jahr sieht er das Gleiche durch die Augen überschuldeter Menschen. Er tauschte den Bankleiterposten mit ehrenamtlicher Arbeit bei der Schuldnerberatung Ostallgäu. 'Ich bin in der passiven Altersteilzeit und wollte eine sinnvolle Tätigkeit, bei der ich meine Fachkenntnisse anwenden kann', sagt der 58-Jährige.
Lange Wartezeiten abbauen helfen
Die Schuldnerberatung kannte er bereits aufgrund seiner Mitgliedschaft im Vorstand der evangelischen Kirche Schongau. 'Dadurch hatte ich Einblicke in die Herzogsägmühle und die evangelische Diakonie, die Träger der Schuldnerberatung sind.' Auf diesem Wege hörte er auch von den langen Wartezeiten von bis zu sieben Monaten für Ratsuchende. Diese wollte er 'abbauen helfen und die Diakonie bei ihrer Arbeit unterstützen', nennt er die Gründe für sein Engagement.
Seit Oktober 2006 hilft Wied nun überschuldeten Menschen an eineinhalb bis zwei Tagen die Woche. Er unterstützt sie bei der Korrespondenz mit Gläubigern, bei Schuldenregulierung und Verbraucherinsolvenzanträgen. 'Durch diese Arbeit habe ich Banken aus der Warte des Schuldners intensiver kennengelernt', sagt Wied. Mit dem Wissen aus seinem Berufsleben könne er nun für beide Seiten Verständnis aufbringen und Schuldnern Tipps im Umgang mit Banken geben.
Welche Erkenntnis er aus seiner ehrenamtlichen Arbeit gewann? Die Antwort kommt schnell: 'Viel zu viele Schuldner suchen viel zu spät Rat.' Darum sei bei circa 80 Prozent eine sinnvolle Schuldenregulierung gar nicht mehr möglich. Es bleibt nur die Verbraucherinsolvenz. 'Erstaunlich' findet Wied zudem den 'hohen Frauenanteil von rund 40 Prozent. Das hatte ich nicht erwartet, weil ich aus dem Bankbereich weiß, dass Frauen bei Krediten eher nur mithaften statt eigene Verbindlichkeiten einzugehen.'
Aber so hautnah wie jetzt habe er Schuldnerschicksale als Banker ohnehin nie erlebt. 'Hier wird das Buch des Lebens aufgeschlagen', sagt Wied über die Beratungsstelle, bei der nicht nur die finanzielle Situation der Betroffenen Thema ist. Die Hilfe reiche vom Haushaltsplan bis zur psychotherapeutischen Beratung. Dabei gibt es Fälle, 'die herzzerreißend sind'. Um sich davon abzugrenzen, müsse man persönlich gefestigt sein, ein gewisses Alter haben und eine gehörige Portion Nächstenliebe mitbringen.
Aber die Arbeit bei der Schuldnerberatung hat für den Ex-Bankdirektor auch positive Momente: 'Es ist schön, wenn die Menschen sich öffnen und mit neuen Perspektiven froh in die Zukunft schauen.' Daran zeigt sich die Bedeutung seiner ehrenamtlichen Arbeit oder laut Wied des Ehrenamtes insgesamt. Und damit kennt er sich aus, schließlich engagiert sich der Bernbeurer auch im Vorstand des Schachvereins seiner Heimatgemeinde und bei der Tischtennis-Abteilung in Schongau.
Unterschiede eigentlich gar nicht so groß
Wie aber nun unterscheiden sich die Perspektiven auf der Bank und bei der Schuldnerberatung? 'Eigentlich gar nicht so sehr', antwortet Wied spontan. 'Hauptsächlich dadurch, dass die Kunden bei der Bank meist noch liquide sind, hier sind sie zahlungsunfähig.'