Eine Kerze für Manuel. Eine für seine Oma. Und auch welche für all die anderen Toten. Helga Bertele und Nathalie haben sie hinunter ans Meer getragen, sind durch den Sand gelaufen, ein Fuß vor den anderen, durch die schwülwarme Luft. Dorthin, wo die Welle war.
Sie haben die Dochte entzündet, ganz still waren sie dabei, es hat sie berührt, und es flackerten hunderte Kerzen am Strand. An 'ihrem' Strand. In Unawatuna, einem kleinen Badeort an der Südwestküste Sri Lankas, ist Helga Bertele vor zehn Jahren durch das Wasser des Tsunamis getaucht, um ihr Leben geschwommen und um das ihrer Tochter Nathalie, damals ungeboren in ihrem Bauch.
Manuel konnte nicht schwimmen und sein Vater ihn nicht halten, bei der Wucht der Welle. Manuel ist ertrunken damals. Er war knapp eineinhalb. Seine Großmutter ging mit ihm. Helga Bertele ist heute 49 Jahre alt. 'Hier ist es nun Nacht', schreibt sie per E-Mail ins Allgäu, wo 8.000 Kilometer entfernt von Sri Lanka ihr Bauernhof im Oberallgäu steht, derzeit ordentlich eingehüllt von Schnee.
Die Frau war nach dem Tsunami häufiger in Sri Lanka, aber bisher nie an Weihnachten, am Jahrestag der Flut. Jetzt also zum ersten Mal - wenige Tage, nachdem der Inselstaat im Indischen Ozean mit schweren Überschwemmungen zu kämpfen hatte. Ein deutscher Fernsehsender dreht dort gerade, dessen Budget hat ihre Reise mitfinanziert und sie zu Weihnachten an den Ort ihres Traumas gebracht.
Unawatuna. Die Rucksacktouristen haben das Dorf als Erste entdeckt. Es schmiegt sich an eine Bucht, die von Palmen gesäumt ist. Der Sand ist hellbraun bis beige, das Wasser flach und türkisblau. Es gibt ein paar Hotels, die Touristen können Roller mieten, im Internetcafé E-Mails nach Hause schreiben, die Telefonverbindung ist ohnehin schlecht.
Unawatuna ist ein Ort für entspannte Urlaubstage. Helga Bertele hat früher Monate dort verbracht. In einem Urlaub hatte sie ihren Mann kennengelernt, der ein Haus am Meer hatte. Bis zu jenem 26. Dezember 2004. Das Wasser kam am Morgen.
Neun Tage danach saß Helga Bertele damals wieder in Kempten. Sie war ausgeflogen worden, ihre Verletzungen hatten sich entzündet. Als das Wasser in ihrem Haus am Meer gestiegen war, binnen Sekunden bis zur Decke, war sie getaucht, der Kühlschrank kippte direkt neben ihr um, sie rettete sich aufs Dach. Ihr Mann und ihr Sohn wurden draußen gegen eine Palme geschleudert. Manuel hatte gerade Laufen gelernt, die Wand aus Wasser hatte alle im Schlaf überrascht.
Helga Bertele hat 2004 viele Verletzungen davongetragen, die nach außen kaum sichtbar waren. Über die sie sprechen musste, um sie zu heilen. Also hat sie sich an unsere Zeitung gewandt, da wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe gerade erst sichtbar.
Helga Bertele trug Orange an diesem Nachmittag, im Allgäu war es ein ungewöhnlich warmer Januar, sonnig und mit nur wenig Schnee und etwas Regen. Kleine Perlenohrringe, um den Hals eine Kette mit einem goldenen Herz, das Haar dunkel gefärbt und Schatten unter den Augen, so saß sie da in einem kleinen Konferenzzimmer der Redaktion.
Weiße Wände. Sie hat geredet und geredet, stundenlang, als wolle sie nie wieder aufhören. Von Manuel hat sie erzählt und vom Wasser, von Sri Lanka, wieder von Manuel, den sie gefunden hatten, als das Wasser zurückgegangen war. Der aussah, als habe er nur geschlafen. Den sie gemeinsam mit der Großmutter beerdigt haben.
Helga Bertele hat damals gegen das Wasser angeredet, gegen die Bilder in ihrem Kopf, gegen die Machtlosigkeit und Verzweiflung, sie war unendlich traurig. Und wer ihr zuhörte, war es mit ihr. Bertele hat in den Jahren danach viele dazu gebracht, ihr immer wieder zuzuhören. Es gab auch ein paar, die all das nicht mehr hören konnten.
Die Allgäuerin, die während des Tsunamis Elternzeit genommen hatte von ihrem Job im Vertrieb einer Elektrotechnikfirma, hat dann ein Buch geschrieben und einen Verein gegründet, der den Namen ihres Sohnes trägt. Sie hat Schwimmunterricht für Kinder in Sri Lanka organisiert und diejenigen zusammengebracht, die das finanzieren wollten. Fernsehauftritte, Interviews, die 49-Jährige hat ihren Weg gefunden, mit all dem umzugehen.
Die deutsche Öffentlichkeit hat sie bei ihrem langen Weg durch die Trauer begleitet. Von ihrem früheren Mann lebt sie längst getrennt. Nathalie ist Mittelpunkt, darum dreht sich vieles. Nathalie ist heute neun. Ein schlankes Mädchen, das gerne rennt und tobt, mit wildem schwarzen Haar, braunen Augen und der dunklen Haut ihres Vaters. Wer Helga und ihre Tochter trifft, in Kempten zum Beispiel beim Einkaufen, sieht eine kleine, glückliche Familie, vielleicht unkonventioneller und bestimmt ungewöhnlicher als andere im Allgäu.
Doch das Drama jenes Dezembermorgens sieht er nicht. Helga Bertele hat sich dem Leben zugewandt. Der Tsunami, der ihr 2004 den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, ist eine neue Basis geworden, irgendwie. Trauerarbeit, Gespräche mit anderen Tsunami-Opfern: 'Es ist wohltuend verbindend, mit dem Erlebten nicht allein zu sein', sagt sie. Vielmehr, sie schreibt es, denn noch bis in diesen Januar hinein ist sie auf Sri Lanka.
Im Oberallgäu, ein paar Kilometer von Kempten, in Sulzberg, wartet der Bauernhof. Er hat Helga Berteles Eltern gehört, beide leben nicht mehr, und abgesehen von Katzen gibt es dort auch keine Tiere. Helga Bertele hat eine 'Arche' aus dem alten Haus gemacht, wie sie es nennt. Irgendwo zwischen Wohngemeinschaft, Selbsthilfegruppe, Lebenszweck, auch Therapie, lebt sie dort, mit Tochter und Mitbewohnern.
Es gibt Workshops, Gespräche, in ihrem Wohnzimmer hat sie Erinnerungsstücke aufgehängt. Doch keine Bilder von Manuel. Diese Erinnerung trägt sie bei sich. In den Weihnachtsferien ist sie also nach Sri Lanka zurückgekehrt. Und mit jeder Geschichte, die andere Betroffene erzählen, kommt alles auch bei ihr wieder hoch, schreibt sie.
Betroffene gibt es viele in Unawatuna, fast jeder kann davon erzählen, vom Tag, als die Flut kam. Der Ort war mit am schlimmsten betroffen an diesem Abschnitt der Küste. Helga Bertele hat das Tsunami-Museum besucht. Es steht an der Stelle, wo damals ein Zug entgleiste und allein 1.600 Menschen starben. Das sind Momente, die sentimental machen. Wer würde auch behaupten, das ließe ihn unberührt, wer ist stärker als eine Naturkatastrophe?
Auch Nathalie hat die Atmosphäre vor Ort berührt, sagt ihre Mutter. 'Die an Weihnachten Geborene', so hat sie ihre Tochter genannt, ganz bewusst. Gemeinsam sind die beiden zum Tempel von Unawatuna gegangen, haben Räucherstäbchen entzündet und gebetet. Helga Bertele glaubt an Gott. Nach dem Trauern sind sie zum Essen gegangen, wie an einem Geburtstag, denn so empfindet die Allgäuerin heute für das Wasser. Sie hat Frieden geschlossen.
Andere, die es nicht erlebt haben, sind unbeschwert in diesen Tagen, die Frau weiß das. Diese anderen haben Weihnachten gefeiert und Silvester. Doch 'uns Betroffene eint die Geschichte wohl auf Lebenszeit'. Und so war es für sie am schlimmsten, Manuels Grab zu besuchen, dorthin in den Dschungel zu gehen, wo er wirklich liegt. Das Grab eines Kleinkindes. Manuel wäre heute elf Jahre, fünf Monate und 14 Tage alt. Seine Schwester ist neun.