Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ist zu Ende. Aus diesem Anlass haben wir Kemptener und Oberallgäuer wiedergetroffen, über die wir schon einmal berichtet haben. In "Menschen eines Jahrzehnts" schreiben wir ihre Geschichten fort - von der Euro-Einführung bis zur Erdbebenkatastrophe in Haiti, von Schicksalsschlägen bis hin zu großen Glücksmomenten. Heute: Der Tsunami 2004 - und wie Helga Bertele nach dem Tod ihres Kindes weitermachte.
Im Sommer will Helga Bertele nach Sri Lanka zurückkehren. Um ihre Tochter Nathalie zu ihren Wurzeln zu führen. Um ihr die Menschen zu zeigen, deren Geschichte, dunkle Haut und schwarzes Haar zum Erbe des Mädchens gehören. Vielleicht auch, um die Stelle im Dschungel wiederzusehen, an der Manuel begraben liegt. Im Tsunami am 26. Dezember 2004 verlor die heute 45-Jährige ihren eineinhalbjährigen Sohn. Sie selbst überlebte die Flutwelle - ebenso wie das ungeborene Kind in ihrem Bauch. Mit Nathalie, der an Weihnachten Geborenen, hat Helga Bertele von vorne angefangen. Nicht in dem Haus am Strand des Badeörtchens Unawatuna, in dem sie vor dem Tsunami wohnte. Sondern in ihrer Heimat, dem Allgäu. Der alte Bauernhof ihrer Familie in Sulzberg, dem sie vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, ist inzwischen wieder ihr zu Hause.
Helga Bertele öffnet die Tür zur Stube. Nach dem Tod ihres Vaters begann sie 2009 mit dem Umbau des Hauses. "Das ist unser etwas ungewöhnliches Wohnzimmer", sagt sie und deutet hinein. Ein Mädchen späht neugierig um die Ecke. Es ist Nathalie, eine lebhafte Fünfjährige, die Puppen mag und sich von ihrer Mama nur ungern das dichte lange Haar kämmen lässt.
An der Wand über dem Sofa hängen ein Rosenkranz und alte Familienbilder. Asiatische Stoffe bedecken die Polster darunter. Neben dem Puppenwagen aus Helga Berteles Kindertagen steht eine Trommel aus Sri Lanka. Gegenüber hat Nathalie ihre Stofftiere aufgereiht und ihre Spiel- und Malsachen ausgebreitet. Das Wohnzimmer - es ist wie ein Spiegel des ständigen Spagats zwischen der Trauer der Vergangenheit und dem festen Glauben an eine bessere Zukunft.
"Wie wäre es mit Kaffee?" Helga Bertele kramt in einem Schrank, holt das "gute Geschirr" ihrer Mutter hervor. Rosa, orange, hellblau - Tochter Nathalie sortiert derweil die Stifte nach Lieblingsfarben. Im August wird sie zum ersten Mal ihren sri-lankischen Papa sehen, den sie nur vom Telefon kennt.
Denn am Tod von Manuel ist die Beziehung ihrer Eltern zerbrochen. An jenem dramatischen Morgen 2004 waren Helga und ihr Mann Sunil getrennt von einander aus dem überfluteten Haus geflüchtet. Während die schwangere Helga tauchend entkam, konnte Sunil den Sohn nicht retten. Eine Welle riss das Kind aus seinen Armen. Manuel wurde später tot geborgen.
Seither hat Helga Bertele die Insel nur noch einmal besucht. Auch aus Sorge, Sunil könne ihre Tochter dortbehalten. "Als Nathalie zur Welt kam, habe ich beschlossen, dass es das Kind sein wird, mit dem ich zusammen die Welt erlebe", sagt sie ernst. Inzwischen aber, fügt sie an, habe sie zu ihrem Ex-Mann ein besseres Verhältnis.
"Manchmal werde ich traurig"
Das "gute Geschirr" steht nun auf dem Tisch. Nathalie sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa und beißt in einen Krapfen. Helga Berteles Blick ruht auf ihr. Liebe liegt darin. Sie hat die Trauer verdrängt, die der Oberallgäuerin nach dem Tsunami buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. "Nur manchmal, wenn Nathalie Mama für ihre vielen Puppenkinder spielt, werde ich traurig", erzählt die 45-Jährige. Aber ihre Tochter habe ihr geholfen, sich dem Leben zuzuwenden.
Kurz nach dem Tod ihres Sohnes gründete sie den Sri-Lanka-Hilfsverein "Manuel". Unter dem Namen "Arche Allgäu" soll der Hof in Sulzberg eine interkulturelle Begegnungsstätte werden. Und für Nathalie wird bald ein Pony im Stall stehen. Dann wollen Mutter und Tochter, die berufsbedingt noch nach Esslingen pendeln, endgültig in Sulzberg Fuß fassen.
Hat sie nach dem Verlust von Manuel mehr Angst um ihr zweites Kind? Die 45-Jährige schüttelt energisch den Kopf. In einem Traum während ihrer Schwangerschaft habe sie ihre Tochter als erwachsene Frau und sich selbst mit weißem Haar gesehen. "Seitdem weiß ich, dass ich alt werde und sie leben darf. Gott wird mir so etwas nicht noch einmal schicken."