Überraschung aus Mecklenburg: Das 'Kuckucksnest' des Landestheaters Parchim. Von Stefan Dosch Kaufbeuren Wenn ein Theaterstück gegen eine bereits bestehende Verfilmung antritt, noch dazu gegen eine wie Milos Formans fünffach oskargekrönte, den Schauspieler Jack Nicholson unvergesslich in der Erinnerung verankernde Umsetzung aus dem Jahre 1975 dann ist eine solche Unternehmung eine ziemlich heroische Tat. Theater muss dann schon einiges aufbieten können, um sich gegen die Suggestionskraft der Bilder behaupten zu können. Versuche, Erfolge der Leinwand auch auf der Bühne zu wiederholen, gibt es ja einige, und nicht wenige scheiterten kläglich.
Es bestand kein Grund anzunehmen, dass gerade das Mecklenburgische Landestheater Parchim wo bitte? sich souverän der Aufgabe entledigen würde, die Theaterfassung von Ken Keseys 'Einer flog über das Kuckucksnest' auf die Bühne zu stellen. Umso erfreulicher die Überraschung, hier auf ein Ensemble zu treffen, welches den Bogen auch in der vierten Stunde noch auf Spannung zu halten vermochte. Wiewohl eine Kulturring-Veranstaltung, glänzte das Abopublikum durch Abwesenheit. Glücklicherweise war die Aufführung Bestandteil der Theatertage, und so ließen Kinder und Jugendliche ihrem Entzücken gebührend freien Lauf.
Fröhliches Tobhaus
Auch in der von Dale Wassermann eingerichteten Bühnenversion besitzt das Sujet noch immer genügend Sprengkraft, um unter die Haut zu gehen. Nicht so sehr, weil hier die Zustände in einer Psychiatrie offen gelegt werden die Story leidet eher ein wenig an dem Problem, zwischendurch immer mal wieder dem Klischee vom fröhlichen Tobhaus aufzusitzen. Faszinierend hingegen, wie hier Prozessabläufe in Gruppen, vor allem aber im unmittelbaren Gegenüber zweier Individuen aufgefasert und die Stränge bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt werden. Alles mündet letztlich in die Frage der Macht über den Anderen, und selbst der scheinbar unverdächtige Wille zu moralischer Überlegenheit entpuppt sich als unwiderstehlicher Antrieb, dominieren zu wollen.
Ausgetragen wird dieser Konflikt vor allem in der Konfrontation der Stationsschwester Ratched mit dem Anstaltsinsassen Mc Murphy. Paraderollen für differenzierte Darstellerkunst: Karina Hellmann verströmt als Ratched bei jedem Auftritt die Gefühlskälte eines stalinistischen Kaders. Doch gerade weil sie niemals die Stimme hebt, schwingt in ihren Worten die Anstrengung, die sie das Aufrechthalten der Beherrschung kostet. Sie fühlt sich als Mutter dieser verrückten Jungs, und wenn die nicht parieren, ist sie persönlich getroffen.
Bei Raik Singer ist auch Mc Murphy eine Figur, deren Verhalten keine Eindeutigkeiten kennt und frei zwischen Extremen flottiert. Ein junger Typ, der sozial nicht besonders angepasst ist, doch ohne Zweifel über humane Begabung verfügt. Ein Durchgeknallter mit unterschwelliger Gewaltneigung, der stark ordnungsliebende Naturen in Alarm versetzt. Einer, an dem man gern ein Exempel statuiert, dem es aber selbst nicht wenig Genugtuung bereitet, andere vorzuführen.
Natürlich hat es sich Regisseur André Hiller nicht nehmen lassen, die alteingesessenen Anstaltsinsassen drastisch zu zeichnen. Ein Dauerfixierter stöhnt und windet sich an der Wand, ein Anderer stottert was das Zeug hält, ein Dritter darf auf der Stelle seinen Trieb befriedigen. Dadurch ist allerlei Komik gewonnen, die Klippen der Denunziation aber bleiben auf Distanz. Während der Umbaupausen ertönen aus dem Off briefliche Schilderungen von Hauptling Bromden, eindrucksvoll unangenehm auch die Auswahl der 'Müttergenesungsmusik'. Lediglich die letzte Szene kommt mit ein wenig viel Schall und Rauch daher. Im Ganzen jedoch eine famose Aufführung eines starken Ensembles, von dem man nur hoffen kann, dass es noch weitere Male den Weg Richtung Süden finden wird. Mc Murphy schwingt sich auf, die starre Welt einer Psychiatrie aus den Angeln zu heben: Raik Singer (hinten) als Protagonist in 'Einer flog über das 'Kuckucksnest'. Foto: Hildenbrand