Anklage: Folgen für Missbrauchsopfer berücksichtigen. Von Andrea Kümpfbeck Kempten Gefängnis oder nicht: Das ist die zentrale Frage in dem Revisionsprozess gegen einen heute 49-jährigen Gynäkologen. Er hatte 1995 vier junge Mädchen während der Behandlung sexuell belästigt. In erster Instanz war der Mediziner zu einer Haftstrafe verurteilt worden, in zweiter Instanz zu einer Bewährungsstrafe. Der Staatsanwalt legte daraufhin vor dem Oberlandesgericht (OLG) Revision ein, weil er die Spätfolgen für die Opfer in dem Urteil nicht berücksichtigt sah. Das OLG gab ihm Recht, der sogenannte Kaufbeurer Frauenarzt-Prozess wurde gestern nun zum dritten Mal aufgerollt.
Vier Jahre sind seit den 'als widerwärtig zu bezeichnenden Taten' vergangen, wie der Vorsitzende Richter es nannte. Die Kaufbeurer Praxis des 49-jährigen Frauenarztes steht leer, die Einrichtung ist nach Ungarn verkauft. Er hat seine Zulassung zurückgegeben und arbeitet heute als Bürohilfe. 'Als Arzt zu arbeiten kommt für mich ohnehin nicht mehr in Frage', sagte er gestern vor Gericht. Das Landgericht Kempten hatte den Mediziner in zweiter Instanz zu einer 16-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt und ihm ein zweijähriges Berufsverbot auferlegt.
Damit hatte es das Urteil des Jugendschöffengerichts Kaufbeuren aufgehoben, das über den Gynäkologen eine 19-monatige Haftstrafe verhängt hatte. Damals hatte der 49-Jährige die Taten als 'ungeheure Schmutzkampagne' heftig bestritten. Das Gericht sah es trotzdem als erwiesen an, dass der Mediziner vier junge Mädchen darunter zwei damals elf- und 14-jährige Schwestern durch minutenlanges Eincremen im Intimbereich in seiner Praxis sexuell belästigt hatte. 'Dieser Tatbestand steht unumstößlich fest', bestätigte der Vorsitzende Richter gestern.
Erst in der Berufungsverhandlung hatte der heute 49-Jährige dann ein Geständnis abgelegt und sogar zugegeben, weitere Patientinnen belästigt zu haben. Diese Taten konnten allerdings wegen des Ablaufs der Verjährungsfrist nicht mehr angeklagt werden. Auch die Anschuldigungen, er hätte die vier Patientinnen wegen gravierender Hygienemängel säubern müssen, zog der Frauenarzt seinerzeit zurück: 'Die habe ich nur zum Zwecke meiner Verteidigung gemacht', wiederholte der 49-Jährige gestern.
Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die Bewährungsstrafe Revision eingelegt, weil sie der Ansicht war, dass die psychischen Spätfolgen der Tat in das Urteil nicht einbezogen worden waren. Zudem sei das Geständnis des Angeklagten, das er erst in der Berufungsinstanz 'aus prozesstaktischen Gründen' abgelegt hatte, überbewertet worden. Auch die günstige Sozialprognose, auf die sich das Urteil stützte, sah die Staatsanwaltschaft nicht.18-Jährige bricht in Tränen aus
Bei den vier jungen Frauen hat sich der Gynäkologe, der gestern gefasst und mit starrem Blick die Aussagen seiner Opfer verfolgte, mittlerweile entschuldigt. Er hat ihnen außerdem jeweils 5000 Mark Schmerzensgeld bezahlt. Trotzdem könne man die Tat nie vergessen, sagten die jungen Frauen übereinstimmend, 'das kann man nicht mehr gutmachen'. Man könne es nur verdrängen, so eine heute 18-Jährige und brach dann in Tränen aus. Die Verhandlung wird fortgesetzt.