Von Sabine Schömig, Gablonz - 'Warum fotografieren Sie das Alte und Zerfallene und nicht das Schöne?' Der dünne unscheinbare Mann mit staubgrauem Mantel und einer bräunlichen Schildmütze auf dem Kopf deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite: 'Das sollten Sie aufnehmen und zu Hause zeigen.' Er meint eine frisch renovierte Villa aus der Zeit um 1900 mit dezent verzierten Mauervorsprüngen und Ornamenten um die Fenster. Doch das Zernagte interessiert uns mehr; wie Alice im Wunderland durchstreifen wir die nordböhmische Stadt Gablonz auf der Suche nach zerfallenden Schätzen aus der Zeit des Jugendstils, die sich hier hinter hässlichen Plattenbausiedlungen und zwischen renovierten Fassaden verstecken. Immer wieder zu lesen: 'Na prodej' (zu verkaufen). Sezessions-Villen mit parkähnlichem verwildertem Gelände darum herum, die Bausubstanz jedoch verfault und verwittert. Der Glanz der ehemaligen Weltstadt Gablonz ist nur noch zu ahnen. Die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der Zweite Weltkrieg und der anschließende Sozialismus haben ihr Übriges getan, um aus prächtigen Bürgerhäusern Ruinen zu machen, die jetzt von Prager Immobilienhaien angepriesen werden. Manche dieser verfallenen Schönheiten waren bis vor kurzem noch bewohnt. Wie jene circa 300 Quadratmeter große Villa am Stadtrand. Die Nachbarin beäugt uns misstrauisch, als wir die zerbröckelten Steinstufen erkunden. Auf tschechisch ruft sie: 'Sie ist letztes Jahr gestorben, die alte Frau, die hier Jahre lang allein gelebt hat.' Hitchcock hätte keine trefflichere Kulisse für einen Psychothriller finden können. Dabei muss man sich die Stadt im Dreiländereck zwischen Deutschland (Zittau ist die nächste Grenzstadt) und Polen, im Norden Tschechiens, 100 Kilometer nord-östlich von Prag im Isergebirge gelegen und romantisch eingebettet zwischen Riesengebirge und dem Böhmischen Paradies, als Stadt mit glorreicher wirtschaftlicher Vergangenheit vorstellen. Im 19. Jahrhundert blühte dort der Welthandel mit böhmischem Glas - und daraus entwickelte sich ein unverkennbarer und einzigartiger Industriezweig: die Bijouterie-Erzeugung, Modeschmuck aus Glasperlen, der hier seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Perfektion entworfen, gefertigt und in die ganze Welt exportiert wurde.
'Österreichisches Kalifornien' Ein Historiker schrieb: 'Der Gablonzer Kreis war das österreichische Kalifornien. Die Fremden strömten aus allen Richtungen herbei, hier ihr Glück zu machen'. Gemeint ist die Zeit um 1866, als Jablonec (der tschechische Name kommt von jablon, Apfelbaum) per kaiserlichem Dekret zur Stadt erhoben wurde. Nicht nur Schmuck fand den Weg in die Welt, auch Textilien, Gürtlerwaren und Glasprodukte wurden ausgeführt. Doch die Einzigartigkeit des früheren Dörfchens liegt in der Herstellung von schillernden Glasperlen, die die Hälse, Ohren und Arme modebewusster Damen aus der ganzen Welt zierten. ' funkelnd bekrönen sie Diademe und Kämme, Agraffen und Nadeln. Vom Mattschwarz der Trauer zum Prunk des Theaterschmucks ist die Empfindung von Schmerz und Freude im Schimmer der sorgsam gewählten Perlen wiederzufinden', heißt es im Vorwort zu einem Ausstellungskatalog von 1994. Selbst der 'rasende Reporter' Egon Erwin Kisch konnte sich der Wirkung ihres Glanzes nicht entziehen: 'Mit den Fingern der linken Hand umfasse ich eine Glasperle,' schrieb er 1935 in einer Zeitschrift, 'In dieser Perle gibt es viel zu sehen Was in ihr eingeschlossen ist, die Kolonialpolitik, die Weltwirtschaft, oder vielleicht spiegeln sich in ihr die Schicksale der überseeischen Verbraucher oder der Erzeuger aus dem Gebiet von Jablonec wider, wo die Perle ihren Ursprung hat Jablonec ist die Metropole dieses Kreises und das Weltzentrum der Schmuckerzeugung.' Kisch bezog sich auf einen Ring von erfolgreichen Unternehmerfamilien. Namen wie Gebrüder Redlhammer oder Gebrüder Mahla zeugen davon, dass viele deutschen Ursprungs waren. Sie rissen das kalte und von reichlich Regen begossene Bergdörfchen, auf 500 Höhenmetern gelegen, mit seiner wasserreichen Umgebung aus dem Schlaf und setzten sich mit schmucken Bürgerhäusern, die selbst mitten in der Landschaft wie aus dem Nichts auftauchen, ein Denkmal. Dabei fand die fantasiereiche Gestaltung der Schmuckstücke aus Glas, kombiniert mit Metall, auch in der Architektur Parallelen.
Verspielte Häuserfassaden Nicht nur Villen in reinem österreichischem Jugendstil, Sezession genannt, zieren die Stadt bis heute: darunter mischen sich immer wieder fantasievoll verspielte Häuserfassaden aus späteren Jahren, die in ihrer Lebendigkeit an den Wiener Architekten Friedensreich Hundertwasser erinnern. Die Bauherren selbst waren oft Nachfahren der ersten Glasmacher, die schon im 18. Jahrhundert aus dem Ausland eingewandert waren: viele davon kamen aus dem süddeutschen Raum, aus Idar-Oberstein und Schwäbisch Gmünd. Der wirtschaftliche Aufstieg der Glas- und Modeschmuckerzeugung vollzog sich im Laufe eines Jahrhunderts und erreichte um 1900 seinen ersten Höhepunkt: Die kleine Stadt, in deren Nähe die Görlitzer Neiße entspringt, konnte sich sogar den Bau einer elektrischen Straßenbahn leisten. Reste davon rumpeln heute noch in festem Takt in die große Nachbarstadt, ins 20 Kilometer entfernte Reichenberg (Liberec). Selbst als die Oktoberrevolution die alte Donaumonarchie zerfallen lässt und der Erste Weltkrieg ausbricht, blüht der Handel mit Gablonzer Glasperlen weiter. Westeuropäische und amerikanische Firmen gründen nach dem Krieg Filialen in der Stadt. Doch die folgende Weltwirtschaftskrise trifft auch Jablonec tödlich. Es versinkt im Strudel der Ereignisse und mit ihm die Produkte, die es weltberühmt gemacht haben; nach dem Zweiten Weltkrieg werden die vielen Deutsch-Stämmigen vertrieben, in die prächtigen Villen ziehen Menschen, denen nicht gehört, worin sie leben und die deshalb keinen Wert auf Werterhaltung legen. Jahrzehnte lang nagt die Zeit an den Mauern. Und erst 13 Jahre nach der Grenzöffnung erfahren die Fassaden wieder Sorgfalt und Pflege. Bestes Beispiel ist das 1906 im modernen Sezessionsstil von einem Wiener Architektenatelier erbaute Stadttheater, das mit Hilfe eines eigens gegründeten Fördervereins innen und außen renoviert wurde und die Kultur der Stadt wieder aufleben lässt. Auch die Fußgängerzone rund um das Rathaus rüstet sich im wahrsten Sinne des Wortes für kommende Jahre. Maler, Restauratoren und Verputzer sind hier Stammgäste. Und die Bijouterie? Sie hat überlebt, in Staatsbetrieben im Sozialismus und heute in marktwirtschaftlichem Ambiente in großen Produktionsstätten in der ganzen Stadt. Die falschen Preziosen, die sie exportieren, funkeln und glitzern auch in Läden in der Innenstadt. Weihnachtskugeln haben sich als weiterer Exportschlager fest etabliert. Dennoch wird vor Ort kaum fündig, wer etwas kunsthandwerklich Ausgefallenes sucht. Die westliche Art, sich ausgewählt zu präsentieren, hat noch kaum Niederschlag gefunden. Dabei verfügt die Stadt über eine exquisite Kunstgewerbeschule. Und ein Glas- und Bijouteriemuseum, lange Zeit geschlossen, erst jüngst wieder eröffnet, hält exquisite Exponate für Besucher bereit. Die Umgebung ist ursprünglich, wild und schön, vorausgesetzt, das raue Klima schreckt nicht ab. Im Westen liegt der Naturpark Jested mit Tropfsteinhöhlen und raren Tieren wie dem Großen Uhu. Auch das Isergebirge im Norden ist seit 1967 Naturschutzgebiet - ein Urgebirge mit bizarren Granitfelsen und Buchenwäldern, Wildbächen und in Wiesen vertreuten Fachwerkhäusern, wo sich sogar der Auerhahn noch blicken lässt. Berühmte Glasmacherfamilien wie Swarowski, Riedel und Preissler haben hier über Generationen hinweg Hütten betrieben. Im Osten von Gablonz erstreckt sich der größte Gebirgszug Tschechiens, das Riesengebirge mit der berühmten Schneekoppe als höchster Erhebung, die Heimat Rübezahls. Das Urgestein ist ein Magnet für Geologen und Botaniker, aber auch für Höhlenforscher, denn die Dolomit-Tropfsteinhöhle Boskov birgt den größten unterirdischen See des Landes. Unter dem freien Himmel dagegen trainieren die tschechischen Wintersportler im Sportzentrum Harachov für ihre Olympiareife, unter anderem auf einer der größten Sprungschanzen der Welt.
Böhmisches Paradies Wer es lieblicher mag, kann das Böhmische Paradies südlich der Stadt durchstreifen. Hier dominiert der Sandstein, der sich zum Teil zu Felsenstädten auftürmt und Freizeitkletterer anlockt. Aber die seen- und bachreiche Landschaft kann auch im Boot erkundet werden, vorausgesetzt, es ist wildwassertauglich. Auf den Felsrücken darüber thronen zahlreich die Burgen aus den Zeiten, als Böhmen noch Heimat reichen Landadels war. Doch die Geschichte ist jetzt nur noch für die Besucher lebendig. Zurück in Gablonz, riecht alles nach Aufbruch. Wenn er sich auch vorsichtig vollzieht. Denn die Menschen sind immer noch skeptisch, ob sich ihre wirtschaftliche Lage rasch verbessern wird. Der alte Mann mit dem staubgrauen Mantel sieht die Verschönerung mit wachen Augen; er durfte 1945 bleiben und schreibt seinen deutschen Namen Schwarz jetzt Svarc. Deutsch spricht er mit singendem böhmischem Akzent, aber fehlerfrei. Er deutet auf Bauarbeiten in einer abschüssigen Straße in der Innenstadt: 'Hier wird die alte Straßenbahnlinie wieder hergerichtet', sagt er stolz. 'Wissen Sie, dass sie zu ihrer Zeit die steilste der Welt war?'