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Ein Ex-Häftling füllt jetzt Hörsäle

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Ein Ex-Häftling füllt jetzt Hörsäle

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    Von unserem Redaktionsmitglied Freddy Schissler, Mannheim/Kempten - Jetzt ist er also wieder in der Schule gelandet. Mit 53 Jahren. Als Charly ein Kind war, hatte er alle fünf Minuten auf die Uhr geschaut, weil er den Gong nicht erwarten konnte, der die Unterrichtsstunde beendete. Er ist nicht gerne in die Schule gegangen, der kleine Bub mit den großen Knopfaugen und dem gekräuselten Haar. Daran erinnert er sich noch gut. Heute ist der einstige Box-Champion Charly Graf über 50 und hat das Allgäu nach zwölf Jahren verlassen - Richtung Mannheim. Dort geht er als Lehrbeauftragter für Sport täglich in die Schulen. Unlängst hat er sich sogar beim Ministerium in Baden-Württemberg um eine hauptamtliche Stelle als Lehrbeauftragter beworben. Bislang machte er das ehrenamtlich: Boxtraining an sozialen Brennpunkten, an Sonder- oder Hauptschulen, wo verhaltensauffällige Schüler ihre Lehrer zur Verzweiflung bringen; Gesprächsrunden mit Buben, die die Ohren auf Durchzug schalten, wenn ihnen Erwachsene Ratschläge geben.

    Kein Firlefanz, sondern Fakten Charly Graf haben sie zugehört. Auch jene, die schon in der Pubertät zuschlagen, wenn's nicht nach ihrem Kopf geht. Denn Graf erzählt ihnen keinen theoretischen Firlefanz, sondern harte Fakten seines turbulenten Lebens. Er berichtet von jenen zwölf Jahren im Allgäu, die ihn wieder auf die Füße stellten. Die ihn resozialisierten. In dieser Region jobbte er als Disco-Türsteher, Lastwagenfahrer oder als Geschäftsführer einer Spielhalle. In Kempten schlüpfte er in die Rolle des Familienvaters, kümmerte sich um Frau Sandra und die Kinder Katharina und Sascha. Ein großes Herz für Kinder hatte er immer. Und eine große Liebe fürs Boxen. Doch die hatte ihn auch auf die schiefe Bahn gebracht und in die Justizvollzugsanstalt Ludwigsburg. Wegen Körperverletzung und dunkler Geschäfte im Rotlichtmilieu. Die Geschichte des Charly Graf ist irgendwie vorgezeichnet: In den 50er Jahren gehört er zu jenen Mischlingskindern mit schwarzem Papa und weißer Mutter. Der Vater verschwindet, als Charly vier ist - zurück beordert von der US-Armee. Der Junge wächst in einer Obdachlosensiedlung im Mannheimer Arbeiterviertel Waldhof auf. In die Schule geht er unregelmäßig. Seine Welt ist die Straße, später ein Keller, wo dicke Seile ein Box-Karree markieren. Oder das Rotlichtmilieu. Charly benutzt seine Ellbogen und die Fäuste, um durchs Leben zu kommen. Und er sagt: 'Ich habe es nie leicht gehabt im Leben.' Das mit den Fäusten muss ihm im Blut liegen. Denn Graf wird ein exzellenter Boxer und eine Art nationaler Hoffnungsträger für jene Fans, die sich nach einem zweiten Max Schmeling sehnen. Den deutschen Meistertitel im Schwergewicht holt er sich 1985. Im Jahr zuvor interessieren sich viele Medien für den Wunderknaben mit dunkler Haut. Im Knast in Ludwigsburg sitzt Graf zu dieser Zeit, und dennoch darf er in den Boxring steigen. 'Knacki feiert gelungenes Comeback': Eine herrliche Schlagzeile für die Reporter vom Boulevard. Nach ein paar Jahren kommt er wieder raus, packt sein Bündel und macht sich auf den Weg ins Allgäu. Dort versichert er im Gespräch mit unserer Zeitung: 'Mit dem Gesetz werde ich nicht mehr in Konflikt kommen.' Er will sein Leben in den Griff bekommen. Auch an eine Rückkehr in den Boxring denkt er mit 40, schuftet täglich dafür, muss aber einsehen, dass der Zug als Boxer abgefahren ist. Jetzt, 13 Jahre danach, hat er die Boxhandschuhe wieder aus der Ecke geholt. Er zieht sie an, um Kindern in Mannheim, wo er nun wieder lebt, zu helfen. Boxtraining, um das Selbstwertgefühl zu stärken. 'Das ist wichtig, um nicht unterzugehen', hat er immer betont.

    Gast an der Humboldt-Universität In Berlin an der Humboldt-Universität sind sie unlängst auf den Lehrbeauftragten Graf aufmerksam geworden. Dort durfte er im Institut für Rehabilitations-Wissenschaften an der Berliner Uni zwei Gastvorträge halten über Sportunterricht bei verhaltensauffälligen Kindern. Charly Graf, der frühere Knacki, der als Bub die Schulen lieber von außen, als von innen sah, als Lehrbeauftragter und Dozent. Die Hoffnung allerdings, diese neue Tätigkeit hauptberuflich ausüben zu können, musste er begraben. Für eine solche Stelle fehlt vermutlich das Geld. Immerhin bescheinigte ihm das Ministerium, eine gute Arbeit zu leisten. Für einen wie Graf ist das wie ein Sieg im Ring: Anerkennung und die Gewißheit, anderen helfen zu können. Und das immerhin an einem Ort, den er als Kind so schnell wie möglich verlassen wollte.

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