Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geht seinem Ende zu. Aus diesem Anlass haben wir Kemptener und Oberallgäuer wiedergetroffen, über die wir schon einmal berichtet haben. In "Menschen eines Jahrzehnts" schreiben wir ihre Geschichten fort - von der Euro-Einführung bis zur Erdbebenkatastrophe in Haiti, von Schicksalsschlägen bis hin zu großen Glücksmomenten. Heute: 2002 - Karl Hehl und sein Leben in der Einsamkeit.
Kreuzthal Eine gute Landkarte, feste Schuhe, Mütze, Handschuhe, dicke Jacke. Ordentliche Winterreifen am Auto, am besten Schneeketten im Kofferraum. Geduld, Ausdauer. Das ist die Mindestausstattung für all jene, die sich im Winter auf die Suche nach Karl Hehl machen. Zu ihm vorzudringen, ist schon im Sommer nicht einfach. Bei Schnee gelingt es nur in einem über einstündigen Gewaltmarsch - oder mit dem Spezialfahrzeug.
Nach seiner Pensionierung 1991 zog der Oberallgäuer auf den abgeschiedenen Berghof seiner Kindheit. Einzige Gesellschafter auf 1000 Metern Höhe: die Katze Mutzi und eine Haflingerstute. Zumindest 2002, als wir zum ersten Mal über Karl Hehl berichteten. Und acht Jahre später? Da lebt Karl Hehl noch immer auf seinem Berg. Am zweiten Weihnachtsfeiertag ist er 82 geworden.
Mit dem Auto geht es über Buchenberg nach Kreuzthal und geradeaus hindurch, immer der Straße nach. Ein paar Kilometer weiter liegt rechts hinter ein paar einsamen Gehöften ein Parkplatz. Karl Hehl wartet schon. Die orangefarbene Jacke leuchtet hell in der verschneiten Landschaft. Früher hat Hehl bei der Memminger Straßenmeisterei gearbeitet. Mit dem Job hielt er sich und seine drei Töchter über Wasser. Seine Frau, mit der er in Ottobeuren lebte, starb zwei Jahre nach der Geburt des jüngsten Kindes.
"Da hinten steht mein Schlitten", sagt der 82-Jährige und reicht eine kräftige Hand zur Begrüßung. Eine Hand, der man die harte Arbeit ansieht. Zuerst auf dem Hof, mit 17 dann als Waldarbeiter im Akkord, später bei der Straßenmeisterei und heute wieder auf angestammtem Grund und Boden.
Der "Schlitten" von Karl Hehl ist ein Quad. Wintertauglich, versteht sich. Mit Schneeraupen darunter. Vergangenen Februar hat der 82-Jährige das Quad angeschafft. Früher ist er Skidoo gefahren. Hinten am Quad hängt ein selbst gebauter Schlitten - für den Transport von Einkäufen oder Werkzeug.
Steil den Berg hinauf
Der 82-Jährige lässt den Motor an, verteilt seine "Fahrgäste" auf ihre Plätze, fährt los. Ohne Handschuhe an den Händen. Nach kurzer Strecke steigt der Weg an. Geht es wirklich dort hinauf? Tatsächlich. Das Raupenfahrzeug pflügt mit tiefem Brummen durch den Tiefschnee, schnurrt vorbei an Abgründen und Hängen, über schmale Kurvenpfade und durch ein Waldstück. Der Weg wird noch steiler. Der Fahrwind pfeift. Was für ein Erlebnis. Was für ein Abenteuer - zumindest für Bewohner aus geregelten Kemptener Innenstadtverhältnissen.
Wieder nimmt das Quad eine Steigung, dann taucht ein Gehöft im endlosen Weiß auf. Das Geburtshaus von Karl Hehl. Durch die Stalltür geht es ins Haus - der andere Teil des Hofs ist als Wochenendhaus fest vermietet. Die Haflingerstute und ein Fohlen schnauben zur Begrüßung, die Stallwände sind behängt mit Riemen, Schlaufen und Werkzeug. Es geht die Treppe hinauf, dann öffnet der 82-Jährige die Tür zu seiner winzigen Stube. Der Schritt über die Schwelle ist wie ein Eintauchen in eine andere Welt. Seit 1923 - da kaufte Hehls Vater den Hof - hat sich nicht viel verändert.
Der 82-Jährige setzt sich an den Tisch. Seine Katze Mutzi - 20-jährig und mittlerweile blind - liegt auf dem Sofa. An der Wand hängt der Fernseher und auch ein Telefon gibt es. Der Oberallgäuer beginnt zu erzählen. Davon, dass er "do dahoi" ist und "sonscht nirgends". Dass er nie im Leben eine Wirtschaft besucht hat und nur wenige Male im Jahr zum Einkaufen nach Isny fährt. Dass seine Töchter und die Enkelkinder hin und wieder auf Besuch kommen. Krank, so sagt er, sei er praktisch nie gewesen - zum Glück. "Denn wenn krank bisch, ghörsch hier der Katz." Karl Hehl lacht gut gelaunt - wie ein Mensch, der mit sich und der Welt im Reinen ist.
"I hab gar alls, was i will", sagt er dann. "I wünsch mir nix." Höchstens vielleicht eine Schneeschleuder, damit er auf die alten Tage nicht mehr so viel schaufeln muss.
Karl Hehl lebt seit knapp 20 Jahren in der Einsamkeit seines Berghofs auf 1000 Metern Höhe in Kreuzthal (Buchenberg). Sein wintertaugliches Quad verbindet ihn mit der Welt. Fotos: Martina Diemand