Jürgen Müller ist Busfahrer. In den 14 Jahren, die er jetzt dabei ist, hat er viel erlebt. Im Linienverkehr – und auch im Umgang mit den vielen Kindern und Jugendlichen, die er unter der Woche täglich zur Schule und wieder nach Hause bringt.
Als Busfahrer ist Jürgen Müller ein Quereinsteiger. Acht Jahre lang arbeitete der heute 58-Jährige als Leiter eines Mietparks für Baumaschinen, verantwortete Millionenbeträge. Doch der Beruf wurde ihm zu stressig, machte ihn kaputt. "Was nützt mir das, der zweite Mann in der Firma zu sein, wenn ich fünf Jahre später ein Magengeschwür habe?" Jürgen Müller handelte: Er ließ Geschäftswagen und gutes Geld hinter sich und landete schließlich eher zufällig beim Busfahren.
"Es fühlte sich an, als käme ich vom Regen in die Traufe," beschreibt der Wildpoldsrieder seine Anfänge als Busfahrer. Plötzlich hatte er mit "Leuten von der Straße" zu tun, mit denen es vorher so gut wie keine Berührungspunkte gegeben hatte. Dazu kam der Zeitdruck des straffen Fahrplans und der ausgesprochen harte Winter, der sein erster Winter als Busfahrer werden sollte. Verspätungen zwischen 20 und 45 Minuten: keine Seltenheit. "Ich habe mir oft Gedanken gemacht, ob ich mich richtig entschieden habe."
Drängeleien im Schulbus, Autofahrer ignorieren Warnblinkanlage
Denn gerade im Schulbusverkehr kommt Jürgen Müller oft an seine Grenzen: Die Luft ist schlecht, das Geschrei teilweise unerträglich. "In vielen Berufen wäre diese Lautstärke gar nicht erlaubt." Dazu kommen Drängeleien, weil jeder einen Sitzplatz ergattern will. Kurioserweise stellen Jürgen Müller und seine Kollegen fest, dass es auf der Strecke von Dorf zu Dorf unterschiedlich ist, ob sich eine Art "Drängel-Kultur" eingeschlichen hat, oder nicht. Bei einem Kollegen ist vor ein paar Jahren ein Mädchen in Isny schwer verletzt worden. Sie konnte sich dem drückenden Pulk hinter sich nicht mehr entgegenstemmen und geriet mit dem Fuß unter ein Rad.
Schulbus-Training an Allgäuer Grundschulen und teilweise auch an Realschulen soll solchen tragischen Unfällen vorbeugen. Außerdem wollen die Fahrer den Kindern vor allem eines nahe bringen: nach dem Aussteigen nicht blind auf die Straße zu rennen. Das hat Jürgen Müller schon oft erlebt: "Du siehst die Kinder vor dir Richtung Straße laufen und im Seitenspiegel ein Auto heranrasen." Denn mit Schrittgeschwindigkeit fährt kaum ein Autofahrer an einem Bus mit eingeschalteter Warnblinkanlage vorbei (obwohl es Vorschrift ist, sogar in beide Richtungen). Als "eine Katastrophe" bezeichnet er das Verhalten der Verkehrsteilnehmer, sieht aber auch die Eltern in der Pflicht, ihre Kinder speziell auf diese Gefahr beim Busfahren hinzuweisen.
Freundschaftliches Verhältnis zu den Fahrgästen
Mit den Jahren lernte Jürgen Müller aber den Beruf, und gerade den Umgang mit den unterschiedlichsten Menschen, zu lieben. "Man soll ja eigentlich nicht mit dem Busfahrer reden. Aber ohne das würde mir der Job gar nicht so viel Spaß machen, wenn ich da wie so eine Maschine drinhocken muss." Zu vielen Fahrgästen pflegt Jürgen Müller ein freundschaftliches Verhältnis. Von einem kleinen Jungen bekam er sogar einen Brief zum Abschied, als er wegen einer Operation länger ausfiel. "Das war so süß. Ich hab ihn zu Hause gelesen und hatte Tränen in den Augen."
Ein guter Busfahrer braucht laut Jürgen Müller vor allem gute Nerven, Geduld und Verständnis. Gerade alte Menschen und Kinder gehören zur Klientel. Doch der Job birgt auch Gefahren: "Man kann als guter Mensch reinkommen und wird ein schlechter Busfahrer," sagt Müller. Gerade im Umgang mit unverschämten Fahrgästen braucht ein Busfahrer nämlich auch eine dicke Haut. "Wenn du dich da versauen lässt, dann wirst du so wie diese Leute," sagt Müller.
Er versucht jedem Menschen eine neue Chance zu geben. "Der nächste der kommt, kann nichts dafür, dass der vor ihm in meinen Augen ein Idiot war." Müller sieht das große Ganze und hat gelernt, Unfreundlichkeiten wegzustecken: "Vielleicht hatte er ja private Probleme und lässt das Ganze jetzt halt am Fahrer aus." Müller erzählt aber auch von Momenten, in denen es ihm nicht gelungen ist, Ruhe zu bewahren. "Es gab schon Situationen, in denen ich ausgerastet bin und einem Fahrgast deutlichst seine Grenzen aufgezeigt habe."
"Fast-Unfälle" gibt es viele
Über seine Erlebnisse als Busfahrer könne er ein Buch schreiben, sagt Jürgen Müller. Nennen würde er es "Busfahrer – eine Herausforderung". Denn vieles in seinem Job kommt einer Gratwanderung gleich: Das kann der Umgang mit schwierigen Fahrgästen sein, aber auch Entscheidungen im Straßenverkehr, die er oft in Sekundenbruchteilen treffen muss. "Manchmal ist eine Vollbremsung keine Option, das ist bei 130 Personen im Bus zu gefährlich." Dann geht es nur darum, irgendwie an der Gefahrenstelle vorbei zu kommen. "Fast-Unfälle" gibt es viele, sagt er.
Doch zum Glück hatte Jürgen Müller bisher nur einen Unfall, bei dem auch Fahrgäste verletzt wurden. Im April 2008 drückte eine starke Windböe seinen Bus, hauptsächlich besetzt mit Schulkindern, bei verschneiter Fahrbahn nahe Buchenberg von der Straße. "Als Busfahrer stehst du immer mit einem Fuß vor dem Richter", sagt Müller. Denn wenn etwas passiert, muss sich der Fahrer dafür verantworten. Auch er stand nach dem Vorfall wegen vierfacher fahrlässiger Körperverletzung vor Gericht, wurde aber freigesprochen. Es waren nach Auffassung des Gerichts die äußeren Umstände, die den Unfall bedingt haben und nicht sein eigenes Verschulden. "Wenn ich weiß, ich habe nichts falsch gemacht, kann ich so etwas auch gut verarbeiten."
Viele Gefahren – für viel Lohn? Eher nicht. 1.300 bis 1.500 Euro bleiben Jürgen Müller in einem durchschnittlichen Monat. "Schweizer Busfahrer, zum Beispiel, verdienen das Doppelte", sagt er.
Poesie und Natur als Ausgleich
Den Ausgleich zum Bus-Alltag findet Jürgen Müller vor allem beim Jagen und beim Wandern in der Natur. Auch zum vielen Sitzen in seinen bis zu zwölfstündigen Schichten (inklusive Pausen) ist Sport eine willkommene Abwechslung. In den letzten Jahren hat Müller Englisch gelernt, um sich auch mit ausländischen Passagieren unterhalten zu können. Außerdem schreibt er in seiner Freizeit Gedichte. 168 Stück hat er in seiner Zeit als Busfahrer geschrieben. In ruhigen Momenten, die es auf der Fahrt zwischen Kempten und Isny auch gibt, legt er sich Reime zurecht und schreibt sie in kurzen Pausen oft schnell nur auf Fahrschein-Papier auf. "Am Abend habe ich so oft zwei oder drei neue Gedichte," lacht Müller. Zum Teil auch übers Busfahren.