Von Thilo Jörgl Biessenhofen - Eigentlich wollte Georg Spiegel an jenem Sonntag im Juli 1945 beim 'Ratschen' nach dem Gottesdienst vor der Marktoberdorfer St. Martinskirche seine Ruhe haben. Tags zuvor war er von seiner Flucht aus dem englischen Kriegsgefangenen-Lager Gorleben in Marktoberdorf angekommen und nun wollte er sich erholen und bald wieder arbeiten. Doch beim Ratsch vor der Kirche machte ihn Paul Fendt darauf aufmerksam, dass er ohne Entlassungsschein und Papiere in keinem Betrieb eine Anstellung finden wird. Und Paul Fendt bot dem heute 84-Jährigen Marktoberdorfer an, ihn zusammen mit einem Dutzend anderer Heimkehrer auf dem Anhänger seines Schleppers nach Biessenhofen zu fahren. Dort stand seit Mai 1945 das von den Amerikanern eingerichtete Entlassungs- und Internierungslager. Wie Paul Spiegel mussten mehrere Zehntausend Soldaten 1945 das Lager durchlaufen, um einen Entlassungsschein zu bekommen. Aus dem zum größten Teil von Amerikanern besetzten Allgäu wurden Soldaten in Güterzügen zum verkehrsgünstig gelegenen Bahnhof in Biessenhofen gebracht. Täglich kamen auch Laster mit Kriegsgefangenen in die Ostallgäuer Gemeinde.
Kaum schriftliche Quellen Heute sieht man vom Entlassungslager nichts mehr. Die Fläche ist fast komplett bebaut worden. Auch sind bisher nur wenige schriftliche Quellen bekannt, die das Lager erwähnen. Einer, der seit Jahren Informationen über dieses Lager sammelt, ist Heinrich Maul, Vorsitzender des Heimatvereins. Rund ein Dutzend Archive schrieb Maul an, mit der Bitte, ihm Archivalien über das Lager zu schicken. Die National Archives in den USA, ein Militärarchiv in Maryland, das Bundesmilitärarchiv in Freiburg kontaktierte er genauso wie die Stadtarchive Marktoberdorf und Kaufbeuren. Seine Ausbeute: Es gibt kaum schriftliche Quellen. Doch damit gab sich Maul nicht zufrieden. 'Ich konnte noch 32 Zeitzeugen befragen, die etwas über das Lager wussten', erzählt Maul. Details aus diesen Berichten, die zum Teil weit auseinandergehen, sammelte der Biessenhofener. Die Einteilung des Lagers östlich und westlich der Hauptstraße konnte er glücklicherweise einer Zeichnung des inzwischen verstorbenen Schulrats Heinrich Zirckel entnehmen (siehe Grafik). Zirckel notierte auch in einer Art Tagebuch, wie die Gefangenen das Lager durchlaufen mussten und welche Fragen ihnen gestellt wurden. Zusammen mit Zeitzeugen-Angaben erstellte Maul den Ablauf für die Kriegsgefangenen, welche die von den Amerikaner geleitete Einrichtung durchlaufen mussten. Die Soldaten wurden verhört und - je nach Beurteilung durch die Amerikaner und angestellte deutsche Juden - sofort entlassen oder einige Zeit interniert. Wer nach Ansicht der Lagerleitung Verbrechen begangen hatte, das alte Regime weiter unterstützte oder in führender Rolle im Dritten Reich war, wurde in andere Lager transportiert. Nach Darstellung von Zeitzeugen musste sich jeder Inhaftierte zur Entlassung vier Scheine besorgen: einen Laufzettel, einen politischen Fragebogen, eine Militärkartei und einen Entlassungsschein. Bevor man einen Entlassungsschein und ein Entlassungsgeld von 80 Mark erhielt, wurden die Soldaten durch sechs große Zelte geschleust. Im ersten wurden die ausgefüllten Formblätter geprüft. Im zweiten fand ein politisches Verhör statt. Im dritten wurden Fragen zur militärischen Laufbahn gestellt. Und im vierten fand eine ärztliche Untersuchung statt. Dort schauten Angestellte genau auf den linken Oberarm der Soldaten, denn bei SS-Angehörigen war dort die Blutgruppe eintätowiert. Hier wurde auch der Entlassungsschein unterzeichnet. Im fünften Zelt gab es das Entlassungsgeld, im sechsten wurde das Gepäck kontrolliert und die Internierten mussten den Wehrpass abgeben. Wie lange man im Lager bleiben musste, war unterschiedlich. Georg Spiegel ('mich ließen sie schnell frei, weil sie sagten, dass ich ehrlich geantwortet habe') musste nur zweimal übernachten. Zeitweise, so berichten andere Zeitzeugen, sei das Lager so überfüllt gewesen, dass die hygienischen Verhältnisse 'sehr schlecht' waren. Die Gefangenen mussten in Zelten auf dem nackten Boden schlafen. Zudem gab es nur wenige Wasserstellen, die bei weitem nicht für alle ausreichten und ihre Notdurft mussten die Insassen in Latrinengräben verrichten. Auch die Versorgung der Gefangenen war zeitweise ebenfalls mangelhaft. Die Kranken wurden von der Allgäuer Alpenmilch mit Lebensmittel beliefert. Weil die Nahrung knapp war, kochten nach Angaben von Heinrich Maul auch Biessenhofener Frauen Essen für die Soldaten. 'Es sprach sich auch herum, dass es im Lager wenig zu Essen gab und so brachten Soldaten auch Lebensmittel mit ins Lager', so Maul. Das Lager für die SS und Parteimitglieder war von separat von den anderen Lagern auf einer Anhöhe. Einige Biessenhofener bezeichneten es als 'Obersalzberg'. Generäle und Offiziere erhielten nach Darstellung von Zeitzeugen eine bessere Behandlung in einem eigenen Lager. 'Prominentester' Inhaftierter war Rudolf Hess, der nach einer Erkrankung in ein amerikanisches Militärlazarett verlegt wurde. Nach den ersten kalten Nächten im November wurde das Lager aufgelöst und vermutlich nach Ulm verlegt. Noch sind die Recherchen von Heinrich Maul nicht abgeschlossen. Er will noch nach weiteren Quellen suchen. Eine aufwändige Suche in amerikanischen Archiven, wo Unterlagen vermutet werden, kann sich der Heimatverein allerdings nicht leisten. Rund 3000 Euro müsste der Verein dafür hinlegen.