Je mehr zeitlichen Abstand die Menschen zum Nationalsozialismus gewinnen, desto deutlicher wird, dass viele Behörden, Institutionen oder auch Gruppierungen in diese menschenverachtende Ideologie verstrickt waren. Doch zugleich gibt es immer weniger Zeitzeugen, die ein wichtiger Faktor bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen sind. Mit dem geplanten NS-Dokumentationszentrum in München will die Landeshauptstadt ihre Vergangenheit transparenter machen. Dr. Michael von Cranach aus Eggenthal spielt dabei künftig eine wichtige Rolle.
Der Psychiater und Buchautor gilt als ausgewiesener Experte: Als Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren von 1980 bis 2006 sorgte er bereits ausführlich für die Aufarbeitung der Geschichte der Einrichtung. In der Irseer Zweigstelle der früheren Heil- und Nervenanstalt wurde etwa die sogenannte Hungerkur entwickelt, die einen Teil der Euthanasie darstellte. Über 2000 Menschen wurden in Irsee und Kaufbeuren während der NS-Zeit ermordet. Zudem forschte von Cranach über das Thema Psychiatrie im Nationalsozialismus.
Deshalb wurde er nun in einen Arbeitskreis zur Vorbereitung des Münchner NS-Dokumentationszentrums berufen.
"Von Cranach wirkt im Arbeitskreis NS-Euthanasie und Zwangssterilisation in München und leitet die Koordination zwischen den Arbeitskreisen und dem Zentrum", erklärt Dr. Anne-Barb Hertkorn, Wissenschaftlerin im Kulturreferat der Stadt München, das für das Zentrum zuständig ist. Zu dem Arbeitskreis (AK) gehören noch die Historikerin Dr. Annette Eberle und der Medizinhistoriker Dr. Gerrit Hohendorf.
Vieles sei zwar schon erforscht, aber dennoch einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Deshalb trage der AK zunächst zusammen, was an Material schon vorliege, so von Cranach. Darüber hinaus betreibe der AK aber auch Quellenarbeit: "Wir gehen in Archive und regen weitere Untersuchungen an", erklärt der Mediziner. Zudem verfolge er ein Zeitzeugenprojekt, bei dem Menschen interviewt werden, die zu den damaligen Geschehnissen Angaben machen können.
Spannend könnten die Untersuchungen zur Bayerischen Ärztekammer im Dritten Reich sein, so der 69-Jährige. Zudem gebe es neue Kenntnisse über die Tötung von Kindern in einer Kinderfachabteilung, berichtet von Cranach.
Die Idee für das NS-Dokumentationszentrum entstand in den 1990er Jahren, doch erst im April 2010 wurde ein Konzept beschlossen: In einem fünfgeschossigen Neubau soll eine Dauerausstellung mit Rundgang, eine multimediale Mediathek und ein Veranstaltungsort entstehen. Inhaltlich werden der Beginn der NS-Bewegung, ihre Machtausübung und die Auswirkungen in der Nachkriegszeit umfasst. Dabei sollen nicht nur konkrete Täter, sondern auch deren gesellschaftliches Umfeld und Strukturen aufgezeigt werden.
Träger der Einrichtung sind die Stadt München, der Freistaat und der Bund, wobei nach der Eröffnung die Stadt organisatorisch allein zuständig sein werde, erläutert Anke Hoffsten vom Kulturreferat. "Die Grundsteinlegung ist für Sommer 2011, die Eröffnung Ende 2013 geplant", erklärt sie weiter.
Bis dahin hofft von Cranach, konkretere Ergebnisse präsentieren zu können als kürzlich auf einer ersten Tagung der Arbeitskreise, bei der zumeist nur der bekannte wissenschaftliche Status quo vorgestellt wurde. "Aber eine Verstrickung von vielen Institutionen wird immer deutlicher", meint er schon jetzt sagen zu können. So sei die Rolle des Kaiser-Wilhelm-Instituts, aus dem später das Max-Planck-Institut hervorging, zukünftig wohl kritischer zu bewerten.
Zudem scheint der Umgang mit Tätern aus München nur in die allgemeine Tendenz zu passen: Im Nachkriegsdeutschland kamen viele Täter ungeschoren davon. Auch in München habe es nur drei Euthanasieprozesse gegeben - lediglich ein Angeklagter wurde verurteilt, berichtet von Cranach.