'Sie liegen auf den Gehsteigen ' Krugzell/Altusried. Junge Menschen gehen auf Zeit ins Ausland, um ihren Horizont zu erweitern. Andere suchen dort einen beruflichen oder privaten Neuanfang. Manche finden dort sogar ein neues Zuhause. Wir stellen in einer losen Folge Menschen aus Kempten und dem Oberallgäu vor, die uns ihr Leben im Ausland beschreiben. Physiotherapeutin Andrea Holzberger aus Krugzell macht den Anfang. Sie war sechs Monate für eine Hilfsorganisation in Kalkutta.
'Kalkutta ist eine der größten indischen Städte mit über 15 Millionen Einwohnern. Davon leben rund fünf Million auf der Straße oder in Slums und Armenvierteln. Die miserablen hygienischen Verhältnisse, Krankheiten, Unter- oder Fehlernährung sowie Analphabetentum sind normaler Lebensalltag für viele der Menschen dort.
Als ich anfangs die Straßen entlang ging, war ich überfordert von den verschiedenen Eindrücken: So viele Menschen, dass man immer nur langsam gehen kann. Überall liegen Müll und Fäkalien. Es stinkt. Dazu kommen ein Wahnsinns-Verkehr, Lärm und drückende Hitze.
Meine Unterkunft war in einem 'Modern Lodge', das allerdings alles andere als modern war. Beim Anblick des Badezimmers war ich mir nicht mehr sicher, ob ich dort sechs Monate bleiben konnte. Erst einmal fing ich an, alles so gut wie möglich zu putzen und legte über das dreckige Bettlaken meine eigene saubere Bettwäsche. Einen Vorteil hatte die Unterkunft: Sie war sehr billig. Schließlich arbeitete ich ehrenamtlich, ohne Gehalt.
Wo gibt es Toilettenpapier?
In meiner ersten Woche zeigte sich Indien dann gleich von seiner typischen Seite. Es ging los mit lauter Feiertagen, eine Woche lang. Also hatte ich genügend Zeit, die Stadt zu erkunden. Ich lernte schnell viele freiwillige Helfer von Calcutta Rescue oder anderen Organisationen kennen. Sie gaben mir diverse Tipps, beispielsweise, in welchen Restaurants man gut essen kann, ohne sich Magen-Darm-Parasiten einzufangen oder wo man Toilettenpapier bekommt (das die Inder nicht benutzen, sondern die linke Hand).
Für mich als Europäer war es sehr billig in Indien, so dass ich es mir auch gelegentlich leisten konnte, in ein sauberes und klimatisiertes Nobelhotel mit Disco oder super schickem Restaurant zu gehen. Dort sah ich dann das andere Indien, die reiche Oberschicht! Wenn ich aus so einem Hotel auf die Straße kam, dachte ich, mich erschlägt die Hitze. Vor dem Hotel auf der Straße lagen die Menschen auf den Gehsteigen im Dreck und schliefen, Mütter stillten ihre Kinder oder kochten und ich bekam einen richtigen Schock. Der direkte Wechsel zwischen diesen zwei Welten von Reich zu Arm empfand ich als sehr schwierig und ich war plötzlich froh, selbst in einer billigen Absteige unter einfachsten Bedingungen zu wohnen.
Bei Calcutta Rescue arbeitete ich unter anderem in den Straßenkliniken. Dieser 'Kliniken' sind nicht aus Stein gebaut, meist bestehen sie nur aus einem großen Zelt im Freien. In manchen 'Kliniken' gibt es weder Strom noch fließendes Wasser oder Toiletten.
Ich arbeitete mit Mohua, einer indischen Physiotherapeutin zusammen. Unser Arbeitsalltag sah so aus, dass wir jeden Wochentag in einer anderen Klinik mit anderen Krankheitsschwerpunkten waren. Wir hatten Patienten mit Lepra, Tuberkulose, rheumatischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen … vieles, was man bei uns nicht mehr sieht.
Da die Patienten sehr arm sind, müssen und können sie für die Behandlungen nicht bezahlen. Sie bekommen sogar in der Klinik Lebensmittel, damit sie etwas zu essen haben. Manche besitzen nur die Kleidung auf ihrem Leib und nicht einmal Schuhe. Dazu kommt, dass die meisten Patienten Analphabeten sind. Physiotherapeutische Übungen oder die Einnahme von Medikamenten mussten wir ihnen mit einfachen Strichzeichnungen aufmalen. Trotz aller Schwierigkeiten hatten wir immer wieder auch Erfolge und die Patienten waren sehr dankbar. Es war eine sehr interessante Erfahrung und ich würde sofort wieder im Ausland arbeiten.'