Brave Bürger leisten Vorarbeit für das Verbrechen - Ein Lehrstück von Max Frisch am Stadttheater Lindau (az). Weiß ist gut, und schwarz ist böse. In einem guten Staat weißeln die Jungfrauen die Häuser ihrer Väter. Das tut auch die Lehrerstochter Barblin in Max Frischs Stück 'Andorra'. Dass die Andorraner der Tünche dringend bedürfen, wird im Verlauf des Schauspiels deutlich. Lange bevor die bösen Schwarzen einmarschieren. Ein Lehrstück. Glänzend inszeniert vom Hamburger 'Theater Greve.'
Sei es Seelenverwandschaft, gymnasialer Klassenzwang oder der Wunsch, die dunklen Seiten des Ichs kennen zu lernen - die Menschen strömen in die Theaterstücke von Max Frisch. Ein volles Haus gab es auch im Stadttheater Lindau, in dem am Mittwoch 'Andorra' zu sehen war. 'Andorra' - nicht verwandt und nicht verschwägert mit dem gleichnamigen Kleinstaat. Eine Insel der Seligen, in der jeder Bewohner überzeugt ist, zum besseren Teil der Menschheit zu gehören. Irgendwie anders ist nur Andri, der Pflegesohn des Lehrers. 'Ein Jud´' eben, dem die Andorraner klarmachen, wer er ist: Ein Jud Ô ist feige, ein Jud´ ist hinter dem Geld her, ein Jud´ hat keine Gefühle. Andri wehrt sich lange, aber erfolglos. Er nimmt irgendwann, dem Rat des Pfarrers folgend, seine eigene Identität an. In seine seit Kinderzeiten bestehende Liebe zu Barblin schleichen sich Zweifel ein. Wie kann einer, der keine Gefühle hat, lieben? Zu spät bekennt der Lehrer, dass Andri sein unehelicher Sohn ist. Niemand glaubt ihm mehr. Andri wird von den schwarzen Soldaten umgebracht, die Vorarbeit haben die Andorraner geleistet. Die Inszenierung in zwölf Bildern von Manfred Greve geht unter die Haut. 'I have a dream' schallt es aus der Wurlitzer-Musikbox zu Beginn eines jeden Bildes. Wie Andris Träume Bild für Bild zerplatzen, zeigt Michel Haebler in beeindruckender Intensität. Eindringlich und anrührend Jasmin Saghi als Barblin. Beklemmend die Szene, in der ein Soldat die Kammer des Mädchens betritt. Die Tür schließt sich - ein erstickter Schrei ist zu hören. Während Andri vor der Tür aus seinem Schlaf erwacht, über sich und sein Jud´-Sein nachdenkt, der betrunkene Vater dazukommt und ein Streit entsteht, ahnt das Publikum, was sich hinter der Tür ereignet. Wie Frisch die Figur des Soldaten anlegt, lässt vermuten, dass hier entweder bewusst eine ironische Doppelung zum Jud´-Sein eingesetzt wird (positiv denken!) oder pauschale Vorurteile und Klischees auch in Autorenköpfen sitzen. Jedenfalls zog Claus Stahnke als saufender, stiefeltretender, menschenverachtender Soldat, Vergewaltiger und Dummschwätzer alle Register seines schauspielerischen Könnens. Den Part des Lehrers und Vaters, der über seiner Lebenslüge vom kleinen Revoluzzer zum großen Säufer wird, spielte Bernd Seebacher mit viel Einfühlungsvermögen. Courage und Hingabe zeigten Leonore Franckenstein und die fremde Senora (Karin Kiurina) in den Mutterrollen. Judenschauer Roland Schütt verrichtete seine Arbeit erschreckend emotionslos und sachlich. Mit ungetrübter Fröhlichkeit brachte sich der Idiot (Klaus-Jürgen Pawöhner) ins Spiel. In Monologen kommentierten Gastwirt, Tischler, Doktor, Geselle und Jemand rückblickend das Geschehen. Sie alle sind sich sicher: 'Ich bin nicht schuld.' Nur der Pater (Rimbert Spielvogel) erkennt sein Versagen. Er ist es auch, der Barblin über den Kopf streicht. Barblin, die den Verstand verloren hat und in der Schlussszene das tut, was sie schon zu Beginn des Stücks getan hat. Sie weißelt. Weißelt immer wieder den Boden, auf dem Andris Turnschuhe stehen. Das einzige, was von ihm geblieben ist.