Anselm Littschwager sitzt in seiner Handwerkerkluft auf dem Ortsschild des Weilers Hohenrad und dreht sich um. Das letzte Mal für drei Jahre und einen Tag blickt der 25-Jährige auf Heimat, Freundin und Familie zurück.
"Ich liebe euch alle", ruft er, fällt kopfüber nach vorn und landet in den Armen der anderen Gesellen. Dann gehen sie gemeinsam los. Auf die Gesellenwanderung - die Walz. Bis Littschwager 50 Kilometer von Zuhause entfernt ist, darf er sich nicht umdrehen. So verlangt es der Brauch. "Lernen, Menschen treffen, reisen und Arbeiten", will der gelernte Silberschmied mit den langen dunklen Haaren. Er nimmt nicht viel mit: Werkzeug, Schlafsack, Unterwäsche und eine saubere Kluft, das muss reichen. Wo es hingeht, weiß er nicht, als er Montagmittag aufbricht. Nur einen groben Plan gibt es. Das erste Jahr will er in Deutschland verbringen, das zweite innerhalb Europas reisen und das dritte anderswo auf dem Globus. "Am liebsten will ich sechs Monate nach nach Argentinien oder Chile", sagt Littschwager.
Wer auf Wanderschaft geht, verabschiedet sich feuchtfröhlich von seiner Heimat. Das gehört dazu. "So fällt es leichter aufzubrechen", sagt Tilman Flechner. Er ist selbst ein "Fremder Freiheitsbruder" auf der Walz. Zu erkennen sind die Mitglieder dieser Gesellenvereinigung an ihrer Kluft mit dem roten Schlips.
Flechner und zahlreiche andere Gesellen haben die vergangenen Tage bei Littschwagers verbracht und Anselms Abschied gefeiert.
Wie man überlebt
Eine besondere Rolle spielt dabei Robert Pawlowski aus dem Spreewald. Er bringt Littschwager los, wie es unter Gesellen heißt. "Ich werde ihn die erste Zeit begleiten", erklärt er. Der groß gewachsene 27-Jährige mit den Rastalocken ist seit zweieinhalb Jahren unterwegs. Seine Aufgabe ist es, Littschwager alles beizubringen: "Ich erkläre ihm die Wanderschaft, wie man sich benimmt und wie man überlebt."
Ungefähr ein Jahr lang ist in Littschwager die Entscheidung gereift, auf Wanderschaft zu gehen. Das erzählt er auf dem Weg vom Elternhaus zum Ortsrand, wo der traditionelle Abschied stattfindet. Dass er die Daheimgebliebenen vermissen wird, ist ihm klar. "Aber ich komme ja wieder und habe sie alle im Herzen dabei", sagt er. Unglücklich ist seine Freundin. Sie will nicht über die bevorstehenden drei Jahre reden, sagt sie mit Tränen in den Augen. Auch seine Mutter hat jetzt "das Herz in der Hose", wie sie es ausdrückt. Aber Elisabeth und Helmut Littschwager freuen sich trotzdem für ihren Sohn. Darüber, dass er mit ganz anderer Lebenserfahrung wiederkommen wird.
Das soll auch dokumentiert werden: Am Ortsschild angekommen, zeichnet Littschwager eine Karte Deutschlands und seiner Nachbarstaaten. "Das wird er nach der Walz besser können", sagt der Schweizer Geselle Andreas Baumgartner. Diese Karte wird zusammen mit anderen Kleinigkeiten wie einem Stein von Zuhause und auf Zetteln notierten Wünschen in eine Flasche gesteckt. Littschwager vergräbt sie am Ortsrand. Der Brauch schreibt vor, dass der Geselle sie nach seiner Heimkehr wieder ausgräbt. Also in genau drei Jahren.