Es ist ein wunderschöner Herbsttag, perfekt um zu feiern. In einem großen Raum im vierten Stock des Allgäustift Marienheim haben sich mehrere Menschen um einen Tisch versammelt. Zahlreiche Blumensträuße zieren die Tafel. Sie ist mit Käsestangen und Plunder gedeckt. An einem Ende steht ein Kuchen, auf den mit Puderzucker die Zahl 102 gestreut ist. Es ist der Geburtstagskuchen von Anna Gierath. Sie selbst sitzt mit strahlenden Augen direkt davor.
Zahlreiche Mitbewohner aus dem Stockwerk, Betreuer, Kinder und Enkel haben sich versammelt, um der Jubilarin zu gratulieren. Auch Bürgermeister Josef Mayr ist gekommen und überreicht eine Orchidee sowie einen großen Geschenkkorb mit Fruchtsäften. Der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat ein Geschenk und ein Glückwunschschreiben geschickt.
Anna Gertrud Margarethe ist im Jahr 1907 in Dresden-Gruna geboren und hat dort die Volks- und Handelsschule besucht. 14 Jahre arbeitete sie in einer Versicherungsanstalt. 1936 heiratete sie den Werbegrafiker Herbert Gierath und brachte zwei Kinder zur Welt. 1940 wurde ihr Ehemann zum Militär eingezogen - 1941 fiel er in Russland.
Ihre schönsten Erinnerungen habe sie aus der Zeit, in der ihr Mann noch lebte: "Wir sind viel verreist an Tegern-, Königs- und Bodensee und einmal sogar mit einem Cabrio an die Adria".
Zur selben Zeit als ihr Mann fiel, erlebte die damals 34-jährige die Bombenangriffe auf Dresden. Nach dem Einzug der Roten Armee wurde sie mit ihren kleinen Kindern aus ihrer Wohnung gejagt.
Die alleinerziehende Mutter musste während der Nachkriegszeit mehrmals umziehen. Geld verdiente sie bis zu ihrem 74. Lebensjahr als Stenotypistin und Sekretärin. Ins Allgäu kam sie 1998.
Obwohl es der fünftältesten Kemptenerin in ihrer neuen Heimat sehr gut gefällt, gibt es doch ein kleines Problem: Der Allgäuer Dialekt sei schon sehr schwer zu verstehen, meint die Sächsin und lächelt.
Ihr ganzer Stolz gilt ihren beiden Kindern, den vier Enkeln und vier Urenkeln. "Sie helfen mir viel und sind immer für mich da." Die 102 Jahre merkt man der Dame nicht an: Sie liest täglich Zeitung, stenographiert wie zu alten Zeiten und hat für jede Frage eine Antwort parat: "Wie man so alt wird, wollen Sie wissen? Na man wird ja auch gar nicht gefragt ob man will, das kommt von ganz allein."