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Artikel: Virtuose Suche nach der Zeit

22. November 2008 00:00 Uhr von Allgäuer Zeitung

Kemptener Tanzherbst Die Wee Dance Company begeistert zum Auftakt des Festivals

Von Silvia Reich-Recla |KemptenDie Zeit läuft. Gut 60 Minuten durch eine Sanduhr. Derweil rollen, drehen, gehen, springen, robben, schleichen, strecken, heben und balgen sich - mal zärtlich mal derb - fünf Frauen und Männer in grauen Anzügen auf der Bühne des Theaters in Kempten. Die Wee Dance Company aus Berlin begeistert nach 2006 zum zweiten Mal beim Kemptener Tanzherbst. "Theres Time", das Motto ihrer avantgardistischen Darbietung. Es geht um die Zeit.

Auf der großen Leinwand im Bühnenhintergrund tropft ein grauer Wasserhahn. Er tropft laut, gleichmäßig, fast schon rhythmisch.

Angespannte Körper

Zeitverloren, langsam, bedächtig bewegen sich die drei Frauen und zwei Männer wie Schattenfiguren in indirekter Beleuchtung auf das eintönige Tropfen. Zeitlupengleich und doch voller Körperanspannung heben und senken sich gestreckte Beine, biegen sich Wirbelsäulen, recken sich Köpfe und kreisen Ellenbogen: zeitversetzt, nicht zeitgleich.

Sanftes Klavierspiel stand am Anfang des Spiels mit der Zeit, das mit einem Solotanz begann: Langsam bewegt sich die Protagonistin, wiederholt ihre Bewegungen. Bedrohliches Kreischen aus den Lautsprechern unterbricht die harmonische Monotonie: Leiber krümmen sich am Bühnenboden. Eine Frau mit Koffer scheint achtlos über Leichen zu gehen. Kriegszeit? Geräusche geben den Zeitenwandel wider.

Aber welche Farbe hat die Zeit? Die Tänzer präsentieren sich in Grau, die karg dekorierte Bühne ist schwarz-weiß. Ein rotes Seil erinnert an fröhliche Kinderzeiten. Die Tänzer springen übers Seil, kämpfen spielerisch miteinander, zeigen waghalsige Hebefiguren und lassen den Partner dann scheinbar achtlos auf den Boden fallen. Stellvertretend für die "Gepeinigte" schreien einige der 300 Besucher laut auf. Modernes Tanzen berührt. Auch durch freudige Momente.

In kurzen Videosequenzen bieten schauspielernde Tänzer "Zeitwaren" wie scharfkantige Zeitmesser, Zeitraffer oder Zeitlupen zum Durchschauen. Gibt es die Rohware Zeit vielleicht im Großhandel?

Tanzenderweise bietet das Quintett Freizeit, Zwischenzeit, "höchste Zeit" und Mahlzeit (auf kleinen Tischen werden Zuschauern Brot, Käse und Obst serviert). Eine Tänzerin scheint die "Zeichen der Zeit" an sich zu entdecken, zupft an ihrer Haut und drückt ihr Gesicht in den imaginären Spiegel. Unter einem Sandsack "duscht" genussvoll eine andere. Die Zeit (der Sand) rinnt an ihrem Körper herab, rieselt nicht nur durch ihre Finger. Grillen betörende Sommerzeiten leben auf und zwei zeitlos Schöne räkeln sich lustvoll im fahlen "Mondlicht": Die Sanduhr ist schließlich abgelaufen.

Applaus brandet auf, hält lange an.

Weitere Tanzherbst-Aufführungen im Stadttheater Kempten (jeweils 20 Uhr): Hip-Hop-Jugendtanzprojekt "Unzensiert" (24. November), Regionale Tanzszene (26. November), Compagnie Kinetic aus Paris (28. November). Karten in den Service-Centern unserer Zeitung.

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