Zum ersten Mal stellte sich das Staatstheater Nürnberg dem Kemptener Publikum vor - mit einem anspruchsvollen, kompliziert konstruierten Stück. Das Drama "Atropa - die Rache des Friedens", das dem Autor Tom Lanoye schon in seiner Heimat Belgien Ruhm eingebracht hat, spannt einen weiten Bogen von der griechischen Antike bis zu gegenwärtigen Ereignissen.
Die Kernmotive wurden den Atriden-Tragödien des Aischylos und Euripides entnommen, aber auch Georg W. Bush und Donald Rumsfeld lieferten mit ihren Kriegsreden Zutaten. Ja, sogar Teile aus der Kerkerszene von Goethes "Faust" wurden in das düstere Gesamtbild verwoben. Schwere Alexandriner tragen die vielen Monologe und mildern die gezeigten Schrecklichkeiten durch poetischen Glanz.
Inkarnation aller Schrecken ist der Krieg, demonstriert am europäischen "Mutterkrieg", dem zehnjährigen Kampf um Troja. Bei Lanoye gibt es keine Helden.
Agamemnon liebt Phrasen
Von den berühmten griechischen und trojanischen Kriegern ist nur der Griechenkönig Agamemnon übrig geblieben. Er führt das Griechenheer nach Troja und opfert vorher zur Besänftigung der Götter die eigene geliebte Tochter Iphigenie. Sein Metier sind Phrasen im Namen der "Kultur" gegen die "Barbarei", für "Demokratie" wider "Terror" und "Tyrannei". Woher der Wortschwulst stammt, ist leicht zu erraten.
Heldinnen in Opferrolle sind die Frauen. Geschunden, zu Huren erniedrigt, wird ihnen schließlich von Atropa der Lebensfaden abgeschnitten. Hekabe, Kassandra, Andromache, ja sogar die "schöne" Helena und die alleingelassene Klytämnestra sind Opfer. Aber sie jammern nicht in sich hinein, sie schreien ihr Leid und ihre Anklage in die blutige Welt.
Anders als in der Urmythe wird nicht Agamemnon nach der Heimkehr getötet, sondern die gefangenen Trojanerinnen zu ihrer eigenen Erlösung. Der beutelüsterne Agamemnon geht leer aus.
Beachtliches Temperament
Georg Schmiedleitner hat die wuchtige Collage für das Nürnberger Theater mit beachtlichem (auch mit akustischem) Temperament inszeniert. Das schlichte Bühnenbild von Stefan Brandtmayr, ein Kartenviereck im Hintergrund mit vier Öffnungen, bietet ihm genügend Raum zur Entfaltung.
Faszinierende Lichteffekte, mit und ohne Rauchschwaden, lockern die mitunter recht steifen Wortkaskaden optisch auf. Der vorherrschenden Lautstärke hätten kleine Dämpfer nicht geschadet. Mit etwas zuviel Getöse fällt die Axt der mordenden Klytämnestra. Immerhin: Die Botschaft des Lanoye kommt ungeschmälert herüber - das Nürnberger Ensemble agiert aus einem Guss.
Scharf profiliert sind in "Atropa" die Frauen: Henriette Schmidt vor allem als lebenspralle Iphigenie, Jutta Richter-Haaser als männlich-mütterlich Hekabe, Julia Bartolome als verzweifelte Andromache, Nikola Lembach als schon verbrauchte Helena, Isabella Szendzielorz als wild wütende Klytämnestra. Michael Hochstrasser hat seinen Agamemnon auf zynische Unterkühlung angelegt und gestattet sich kaum Gefühlsausbrüche.
Das Kemptener Stadttheater war diesmal nur mäßig besetzt, umso länger aber nach pausenlosem Spiel war der Schlussbeifall. Die Aufführung hat beeindruckt.