Artikel: Es brummt die Mühle am

15. Dezember 2002 20:30 Uhr von Allgäuer Zeitung

In Sigratsbold wird noch immer Mehl gemahlen

Lengenwang (hu). - Was verbirgt sich wohl hinter der Eingangstür, die wir am Samstag in unserer Serie 'AZ-Adventskalener' zeigten? Wer es nicht wusste , dem sei es hier verraten: Sie führt in das Betriebsgebäude der Tannenmühle in Sigratsbold. In den Wochen vor Weihnachten wird sie öfter als sonst geöffnet und geschlossen: Denn es gibt dort Mehl und Gewürze für die Weihnachtsbäckerei. Und das nicht erst seit gestern. Die Mühle in Sigratsbold ist bereits im 15. Jahrhundert urkundlich erwähnt, besteht also schon fast 600 Jahre. 'Ja freilich, einiges hat sich in dieser Zeit sicherlich verändert', bestätigt Müllermeister Wolfgang Reichart, der nach reiflicher Überlegung vor etlichen Jahren den Entschluss gefasst hat, die lange Familientradition fortzusetzen und die Mühle zu übernehmen. Mittlerweile ist die Tannenmühle in Sigratsbold die einzige Mühle im Ostallgäu, die noch Weizen- und Roggenmehl selbst mahlt. Es gibt aber auch das 'wieder entdeckte' Dinkelmehl. Zunehmender Beliebtheit erfreut sich das Kernmusmehl; das 'Muesmeahlmues' war schon fast so etwas wie ein Hauptnahrungsmittel in der früheren Allgäuer Küche. Insider schätzen bis heute das gesunde, ballaststoffreiche und bekömmliche Mus. Geändert hat sich auch einiges in der Energieversorgung der Mühle. Das Kinderliedchen 'Es klappert die Mühle am rauschenden Bach' stimmt noch insofern, als die landschaftliche Schönheit und Idylle im lieblichen Lobachtal unverändert geblieben ist. Doch während sich früher große Wasserräder drehten, brummen heute Turbinen, mit denen Strom erzeugt wird.

Und zwar mit Wasserkraft. Etwa 30 Sekundenliter sprudeln seit Jahrhunderten aus dem Hang in eine Fassung, ein weiterer Teil wird im Mühlkanal aus der Lobach abgeleitet und, nachdem das Wasser seine Arbeit getan hat, dem Bächlein zurückgegeben. Der erzeugte Strom wird gemäß Vertrag ins Netz gespeist und dann je nach Bedarf Strom bezogen. Das ist umweltfreundlich und gewährleistet eine wirtschaftliche Nutzung der Wasserkraft. Bis in die fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren die einheimischen Bauern wichtige Mühlenkunden. Auf zumeist kleinen Äckern selbst angebautes Getreide wurde zur Mühle gebracht und gegen Mehl getauscht. Ehrenbürger Ludwig Hummel aus Wald erinnert sich: 'Meist zweimal in der Woche musste ich das Pferd anspannen und über Wetzlers, die Villa Wolfsegg und Ausserlengenwang nach Sigratsbold zuckeln, um Mehl für den Hummel-Bäck' zu holen.' Die Qualität der Körner ist Grundlage für beste Mehlqualität. Das galt in früheren Jahrhunderten und gilt heute. 'Ich mische jeweils fünf bis sechs Sorten Weizen, um höchste Mehlqualität zu produzieren', sagt Müllermeister Wolfgang Reichart. Ein 'Hauch der großen, weiten Welt' herrschte früher am Lengenwanger Bahnhof, als die Waggon-Ladungen mit Spitzenqualitätsweizen aus der kanadischen Provinz Manitoba, umgeschlagen im Überseehafen Bremerhaven, für die Tannenmühle eingetrafen. Gemischt und vermahlen mit den von der Qualität her nicht so hochwertigen Körnern von den bäuerlichen Äckern erzielte man das gewünschte Ergebnis: Mehl mit den besten Substanzen und dem optimalen Klebergehalt. Der veränderte Markt, andere Vertriebsstrukturen und die vielzitierte Globalisierung stellen hohe Anforderungen an einen Familienbetrieb, der bestehen will. Eine wichtige Komponente ist dabei die Nutzung der 'Nebenprodukte' beim Mehlmahlen für die Mischung und Erzeugung von Futtermitteln. Mit diesem zweiten Standbein, verbunden mit der Liebe zum Müllerhandwerk mit der so langen Tradition, wird die Tannenmühle im Lobachtal bei Lengenwang weiter Arbeit und Lebensunterhalt bieten. Und wer sich Zeit nimmt, dem feinen Rieseln des Mehls über die Walzenstühle, die die vielbesungenen Mühlsteine abgelöst haben, zuzusehen, der spürt: Ein bisschen etwas von der guten alten Mühlenromantik gibt es schon noch - man muss sie halt auf sich wirken lassen.