Startseite
Icon Pfeil nach unten
Allgäu
Icon Pfeil nach unten

Als die Ehrengäste um ihr Leben bangten

Allgäu

Als die Ehrengäste um ihr Leben bangten

    • |
    • |
    Als die Ehrengäste um ihr Leben bangten
    Als die Ehrengäste um ihr Leben bangten Foto: privat

    Von Klaus Schmidt |HirscheggRund eineinhalb Jahre in einer Luxusherberge verbringen zu müssen, stellen sich viele Menschen sicher als kein allzu schlimmes Schicksal vor. Und dennoch hielten sich etwa 30 'Ehrengäste' in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs keineswegs freiwillig im Ifen-Hotel im Kleinwalsertal auf, ja bangten dort zeitweise sogar um ihr Leben.

    Etwa 30 europäische Persönlichkeiten aus Politprominenz, Generalität und Hocharistokratie hatten die Nationalsozialisten in Hirschegg interniert. Es war eine 'wild zusammengewürfelte Zwangsgemeinschaft', erzählt Dr. Thomas Gayda: Antifaschisten wie Francesco Saverio Nitti, der einstige Ministerpräsident Italiens, trafen auf Faschisten wie Carmine Senise, den italienischen Polizeichef unter Mussolini, Herzoginnen und Prinzessinnen auf Karrieristen der faschistischen Systeme, die die Seiten zu wechseln begonnen hatten.

    Genauen Aufschluss über diese illustre Zusammensetzung gibt ein Dokument in französischer Sprache, das der Kulturhistoriker Dr. Thomas Gayda aus Mittelberg im Kleinwalsertal im Landesarchiv in Bregenz entdeckt hat: 'Carnets d’ un Captif' (Aufzeichnungen eines Gefangenen) von André François-Poncet.

    François-Poncet, von 1931 bis 1938 französischer Botschafter in Berlin und danach bis 1940 in Rom, war am 23. August 1943 durch die Gestapo in der Nähe von Lyon verhaftet worden und führte von diesem Zeitpunkt an Tagebuch - bis zu seiner Befreiung im Mai 1945. Franois-Poncet war einer der Ersten, der - nach einem Aufenthalt in Schloss Itter bei Kitzbühel - im Ifen-Hotel interniert wurde: Im November 1943. Sein Tagebuch 'ist das einzige Dokument, das uns Aufschluss gibt über Dinge, die im Walsertal von 1943 bis 1945 passiert sind, und das zugleich den Kriegsverlauf mit Weitblick kommentiert', sagt Gayda.

    Zwar war den Gefangenen, denen man 'eine Behandlung erster Klasse' zuteilwerden ließ und die man wie 'Diplomaten' behandelte, verboten, Kontakt zur Bevölkerung aufzunehmen, aber: 'Dieses Verbot war von allen, die uns auferlegt waren, am leichtesten zu umgehen', schreibt François-Poncet. 'Trotzdem waren wir immer auf der Hut vor Denunzianten.' So lernt der Franzose bei Spaziergängen allmählich die Reize der Landschaft schätzen und entwickelt auch Sympathie für die Talbewohner.

    Auf diesen Spaziergängen begleiten ihn manchmal die Prinzessinnen Marguerita und Marie-Christine von Savoyen-Aosta, beide Teenager, die mit ihrer Mutter Anne, der verwitweten Herzogin von Aosta, ebenso im Ifen-Hotel interniert sind, wie die spätere Königin von Griechenland, Friederike Prinzessin von Hannover, oder die Gattin des damaligen Herzogs von Aosta, Irene. Deren Sohn Amadeo, der heutige Chef des italienischen Königshauses, erlebte im Ifen-Hotel seinen ersten Geburtstag. François-Poncet rätselt in seinem Tagebuch, wo die Köchin die Zutaten für die köstliche Torte aufgetrieben haben mag

    Der französische Botschafter sendet Hilferuf an die Aliierten

    Solche fast irrealen Momente, während Europa in Schutt und Asche sinkt, kennzeichnen das Leben der Internierten ebenso wie die zermürbende Ungewissheit. Franois-Poncet weiß nicht, warum er verhaftet wurde. Er vermutet, er und seine Mitgefangenen, von der Gestapo bewacht, werden als Geiseln gehalten, eventuell um in alliierte Gefangenschaft geratene hochrangige Nazis auszulösen. Doch als das sogenannte Dritte Reich untergeht, wächst unter den Gefangenen die Sorge, sie könnten erschossen werden. Gerüchte kursieren, und als einzige offizielle Informationsquelle bleiben nur die von den Nazionalsozialisten kontrollierten Medien. François-Poncet unterstützt die Widerstandsgruppe, den Walser Heimatschutz, der im März 1945 ins Leben gerufen worden war, und verfasst einen 'Hilferuf' an die Alliierten, das Tal zu befreien. Bevor jedoch die Franzosen die Walserschanz am 2. Mai erreichen, hat der Heimatschutz bereits die 'Nazibonzen' festgesetzt - ohne dass ein Schuss gefallen wäre, erzählt Gayda. Der 1960 geborene Wissenschaftler hat für die Ausstellung 'Sonderfall Kleines Walsertal', die die bislang kaum dokumentierte Geschichte zwischen 1933 und 1948 aufarbeiten soll, lange recherchiert und ist dabei auf singuläre Entwicklungen gestoßen.

    1933 hatte paradoxerweise eine Sanktion des Nazi-Regimes gegen Österreich den Grundstein für einen ungeheuren Tourismus-Boom im Kleinwalsertal gelegt: die 'Tausend-Mark-Sperre'. Danach musste ab 1. Juni jeder Deutsche, der in Österreich Urlaub machen wollte, 1000 Reichsmark, ein kleines Vermögen, an das Finanzamt zahlen. Doch im Kleinwalsertal wurde diese 'Sperre' nach zehn Tagen wieder aufgehoben. Die 'Reichsdeutschen', die im Tal lebten, hatten in Berlin interveniert. Innerhalb der nächsten fünf Jahre verfünffachten sich die Übernachtungszahlen. Zu einem Wahrzeichen des neuen Aufschwungs wurde das Ifen-Hotel, von Architekt Hans Kirchhoff erbaut und 1936 eröffnet. Im Oktober 1943 von Ernst Kaltenbrunner, dem Chef der Gestapo, beschlagnahmt und für besondere Gäste reserviert.

    Ausstellung: 'Sonderfall Kleines Walsertal' (von Thomas Gayda und Stefan Heim), 10. Juni bis 30. Oktober (täglich 9.30-16 Uhr), Walserhaus Hirschegg.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden